22/10/2007

 
Abb. 1

 

Ulrich Keller
KRIEGSBILDER, BILDERKRIEGE
DIE ERFINDUNG DER BILDREPORTAGE IM KRIMKRIEG

Krieg ist schrecklich, und Kriegshorror hat sich als die zäheste Konstante der menschlichen Geschichte erwiesen. Empirisch gesprochen, haben wir dauernd Krieg. Das bringt unter anderem auch Probleme für die Verantwortlichen mit sich, die es schaffen müssen, Krieg trotz der bekannten furchtbaren Folgen öffentlich akzeptabel zu machen. In historischer Zeit, als Kriege technisch noch simpel instrumentiert waren und von Künstlern noch als vitales Kräftemessen oder ritterliche Tugendübung gefeiert werden konnten, diente vor allem die ästhetische Attraktion bunter Fahnen und galoppierender Pferde zur Apologie militärischer Gewalt. Spätestens im Ersten Weltkrieg machte die Waffenentwicklung aber jede farbenfrohe Einkleidung des Schlachtgeschehens zu einem tödlichen Risiko. Die Uniformen wurden grau, die Gefechtsstationen verschwanden unter der Erde, und statt Fahnen und Uniformen muss seither die Faszination von Duesenjägerstahl und digitaler Star Wars-Mystik herhalten, um die Blutspuren zu verwischen.

Der Krimkrieg nimmt in diesem grob abgesteckten Zeitrahmen eine zwiespältige Stellung ein. Einerseits wurden bereits technische Innovationen wie Eisenbahn, Dampfschiffahrt, Telegrafie und Chloroform militärisch genutzt, andererseits stand die technische Revolution der Feuerwaffen noch bevor, so dass der Krimkrieg noch in die Zeit der hohen öffentlichen Akzeptanz von Krieg überhaupt fiel und auch noch von farbenprächtigen Truppenkollisionen geprägt war – Abb. 1 zeigt ein zeitgenössisches Gemälde, das ohne viel dokumentarische Genauigkeit doch viel vom spektakulaeren Erscheinungsbild des Krieges ahnen lässt. Anderweitig ist bildlich belegt, dass die Befehlshaber ihre Armeen (Abb. 2) noch vom sprichwörtlichen Feldherrnhügel per Sichtkontakt dirigierten und im Vorrücken ihrer Regimenter über alle militärische Zweckmäßigkeit hinaus auch das optisch-kulinarische Schauspiel goutierten.


Abb. 2 + 3

Bei aller “Schönheit” hat der Krimkrieg als obskurer, vor 160 Jahren ohne deutsche Beteiligung ausgetragener Konflikt bei gebildeten Mitteleuropäern nur wenige Erinnerungsspuren hinterlassen. Ich darf daher kurz referieren, dass Russland den Kriegsanstoß mit der Besetzung der bulgarischen Nordwestregion des ottomanischen Reiches gab. England und Frankreich sahen dadurch ihre Kolonialinteressen bedroht, schlossen ein Bündnis mit dem türkischen Sultan und schickten eine Expeditionsarmee ans Schwarzen Meer; Abb. 3 zeigt eine grobe Skizze der geografischen Situation. Der Zar zog daraufhin seine Truppen zurück, aber die Kriegsdynamik war nicht mehr zu stoppen. Die englisch-französische Armee setzte mit dem Ziel auf die Krim über, den russischen Kriegshafen Sewastopol einzunehmen, die Docks in die Luft zu jagen und dann die langfristig unhaltbare Krim wieder zu räumen. In ein paar Tagen sollte alles vorbei sein. Trotz spektakulärer Siege in anfänglichen Feldschlachten wurden die Alliierten aber in einen langwierigen Belagerungskrieg verwickelt. Es sollte zwei Jahre und 300000 Tote kosten, bis das beschränkte Kriegsziel der Alliierten erreicht war.

Als einer der modernsten Aspekte des Krimkriegs muss an diesem Punkt die enge Verbindung von Kampf- und Heimatfront hervorgehoben werden. Dank epochaler Innovationen im Transport- und Kommunikationssektor konnte nichts in der Krim geschehen, was nicht sofort Wellen in London schlug, und umgekehrt waren Politik und öffentliche Meinung in London für den Kriegsverlauf nicht weniger entscheidend als die Sturmangriffe vor Sewastopol. Wenige Jahrzehnte war solch enger Briefkontakt in den napoleonischen Feldzügen noch unmöglich gewesen. So dicht und schnell war der Informationsfluss insbesondere zwischen Regierung und Armee, dass die inkompetente militärische Führung der Krimkampagne in Vorwegnahme unserer Iraq- und Vietnamerfahrungen zum Gegenstand parlamentarischer Untersuchungsausschüsse wurde, während der Krieg weitertobte.

Höchst sensationelle Form nahm im übrigen die Einschreibung der Kriegs- in die Heimatfront in einer bestimmten Kategorie großstädtischer Schaudarbietungen an, die von Panoramagemälden bis hin zu pyrotechnischen Knalleffekten reichten. Historisch ging dieses Showbusiness auf die massive Ausweitung des Kunstkonsums im späten 18. Jahrhundert zurück. Kommerziell tüchtige Maler hörten damals auf, kleine Kabinettbilder für Einzelkunden zu malen und verlegten sich auf die Herstellung grandioser Riesenleinwände wie Panoramen und Dioramen, die durch Schauspiel-Einlagen belebt wurden und gegen Eintritt stundenweise zu sehen waren, also etwa wie Kinos funktionierten. Der Londoner Great Globe zum Beispiel wartete (Abb. 4) mit einem großen Reliefmodell der Belagerung von Sewastopol samt Originalwaffen und -uniformen auf. Modisch gekleidete Damen und Herren konnten hier unerschrocken das Belagerungsterrain und authentische Beutegewehre examinieren.



Abb. 4 + 5

Zusätzlich gab es Theaterschlachten, die nächtlich um sozusagen lebensgroße Attrappen der Bastionen von Sewastopol in Vergnügungsparks wie Surrey und Cremorne Gardens ausgefochten wurden. Was die Besucher in Surrey erwartete, ist mit etwas Phantasie an einer Zeitungsillustration (Abb. 5) nachzuvollziehen. Viele Monate bevor er wirklich eintrat, wurde der Fall von Sewastopol hier als permanentes Spektakel vorweggenommen. Etwaige Unterscheidungen zwischen dem tatsächlichen und dem repräsentierten Kriegstheater wurden unter anderem dadurch verwischt, dass Kriminvaliden für ein Trinkgeld bereit waren, sich allabendlich im Zoo von Surrey selbst darzustellen. Das Endresultat war von epochaler Bedeutung, denn stand bis ins 19. Jahrhundert fest, dass das historische Ereignis Vorgang und Vorrang hatte vor seiner Abbildung, so waren nun gewaltige Darstellungs-Apparaturen und -kapazitäten vorhanden, die die Geschichte zum Epiphänomen großstädtischen Spektakels machten. Die Druckerpressen und die Amphitheater – allgemeiner: die Vehikel kultureller Produktion und Konsumtion – liefen immer schon auf Hochtouren und verlangten nach Speisung, ehe die historischen Ereignisse eintraten, und sobald sie eintraten, taten sie es in vorgefertigten Kostümen auf den vorgegebenen Schaubühnen. Anders gesagt: der Krieg, der tatsächlich geführt wurde, war zum ständigen ästhetischen Wettstreit mit dem anderen gezwungen, der längst über die Londoner und Pariser Bühnen ging. Das historische Novum der engen Verschränkung von Kampf- und Heimatfront, derzufolge die Winterkrise der Armee auf der Krim auch sofort den Regierungssturz in London hervorrief, kann im wesentlichen das Werk einer neuen Vermittlungsinstanz genannt werden, die zu Napoleons Zeit erst eine marginale Rolle gespielt hatte, nämlich der bürgerlichen Presse, genauer gesagt, der Pressereportage.

Zeitungen hatte es schon lange gegeben, aber Reportagen unparteiischer, eigens an die Kriegsschauplätze entsandter Journalisten begannen in den Tageszeitungen zum ersten Mal während der Krimkampagne zu erscheinen – der fähigste und berühmteste Reporter war William Russell (Abb. 6), der für die London Times arbeitete und mit seinen Berichten von den haarsträubenden Missständen im Feld die britische Regierung nahezu im Alleingang stürzte. Wochenillustrierte waren dagegen soeben erst "erfunden" worden und bemühten sich sofort, ihren Lesern Bildberichte im authentischen, objektiven Reportagemodus anzubieten. Abb. 7 zeigt ein Selbstportrait von Durand-Brager, der für die Pariser "Illustration" arbeitete. Bis auf den Krimkrieg waren Schlachtfelder die Domäne kämpfender Truppen und dirigierender Generäle gewesen, welche letztere ihren Kriegsruhm immer selbst nach Hause meldeten – noch Napoleon schrieb seine eigenen Schlachtberichte. Mit den rein faktischer Beobachtung verpflichteten Presseberichterstattern trat dagegen ein ganz neuer Berufsstand in Aktion, der die Zeitereignisse nicht mehr nur im Nachhinein kommemorierend festhielt, sondern sie nahezu simultan als laufende, noch offene und beeinflussbare Abläufe in täglichen bis wöchentlichen Raten an eine breite Öffentlichkeit vermittelte.

Abb. 6+7

Abb. 8+9

Wie die Bildreportage funktionierte und was sie für die Zeitgenossen bedeutete, ist (8) an einer Skizze von Constantin Guys abzulesen. Gezeigt ist der trotz Armverwundung kaltblütig die Schlacht von Inkermann am 5.November 1854 musternde General Canrobert. Der Postweg nach London dauerte zwei Wochen, die ausschmückende Umsetzung in den rechts abgebildeten Holzstich (Abb. 9) in der "Illustrated London News" beanspruchte eine weitere Woche, aber im Vergleich zu den Jahre und Jahrzehnte dem Ereignis hinterher hinkenden Historiengemälden eines Leonardo oder Velázquez blicken wir auf ein fast zeitgleiches, die enorme Akzeleration der Geschichte im 19. Jahrhundert spiegelndes Bilddokument. Das Wort "Dokument" ist hier mit Bedacht gewählt. "Taken on the spot" hatte Guys unter seine Skizze geschrieben, und als Baudelaire sie später zu Gesicht bekam, erfüllte ihn dieser Vermerk geradezu mit Ehrfurcht. Vor Ort aufgezeichnet – solch professionell hergestellte und beglaubigte Bildauthentizität hatte es bisher nicht gegeben. Heutige Betrachter werden Baudelaires Ergriffenheit befremdlich finden, da wir gewohnt sind, allein Fotografien als wirklichkeitsgetreu anzuerkennen. Zu Baudelaires Zeit gab es die Fotografie schon, sie war aber noch von vielen technischen Defiziten belastet. Nicht ein optischer Apparat, sondern ein menschliches Auge lieferte Baudelaire die Garantie für die Wahrheit der Reportagebilder. Es war das Auge eines großen Virtuosen zeitgeschichtlichen Beobachtens.

Der Kavallerieoffizier Constantin Guys war in Paris mit Schilderungen der visuellen Attraktionen des Großstadttreibens aus der Flaneur-Perspektive bekannt geworden. Die Brillianz seiner rasch hingeworfenen Boulevard-Skizzen veranlasste Baudelaire, ihn in einem später auf die Impressionisten umgemünzten Aufsatz als Entdecker des "modernen Lebens" zu feiern – und tatsächlich trat Manet mit Gemälden wie dem "Konzert in den Tuilerien" in Guys’ Fußstapfen. Ich zeige zwei Aquarell-Skizzen (Abb. 10, 11), denen Guys’ rapide Handschrift, das blitzschnelle Erfassen flüchtiger Großstadtszenen aus betont zufälliger, subjektiver Privatperspektive deutlich anzusehen ist. Nadar meinte, Guys habe die Momentaufnahme noch vor der Fotografie entdeckt. Tatsächlich hält die nervöse, spontane Strichführung aber die Szenen in einer oszillierenden Bewegung, die von der zeitarrestierenden Kamera bis heute nicht wiedergegeben werden kann. Bei Guys bleibt alles im Fluss, und unermüdliches Strömen ist denn auch die Königsmetapher, unter der er das zeitgenössische Großstadtleben darstellte.




Abb. 10+11

Die Skizze auf Abb. 11 wurde 1854 in den Straßen Istanbuls gemacht, als Guys sich auf dem Weg in die Krim befand, um dem Krieg als Bildberichterstatter für die “Illustrated London News” beizuwohnen. In der Etappe und auf den Nachschubwegen der Krimarmeen bot sich ihm dann eine Fülle von Motiven (Abb. 12, 13), die er in Analogie zum Pariser oder Istanbuler Boulevard-Treiben unter der genannten Metapher des unerschöpflichen Strömens visualisiert hat: Rechts unten marschiert uns eine Kolonne gefangener Russen entgegen – ein Schauspiel, das sachkundig von berittenen Offizieren genossen wird, die hier an die Stelle der Pariser Flaneurs getreten sind. Oben ein Nachschubtross, den man links herannahen und rechts schon wieder in die Tiefe verschwinden sieht – Anfang und Schluss der Prozession bilden ein fast zirkuläres Muster endlosen Wogens und Fließens. Dieses Thema wird weiterverfolgt (Abb. 14) in der folgenden Skizze, die die Vertreibung der griechischen Bevölkerung aus dem Nachschubhafen von Balaklava festhält. Wieder blicken wir auf eine einerseits sich noch nähernde, andererseits sich schon entfernende Menschenmenge, ohne dass je ein Ziel erkennbar wird. Die Prozession kommt und geht, ohne zu verweilen.




Abb. 12+13

Abb. 14

Genau im Zentrum, sozusagen am Wendepunkt von Ebbe und Flut hat Guys sich nun selbst eingeschrieben. Er ist der Berittene, der aus dem Gewühl heraus von einem ihm Popen angesprochen wird. Es ergibt sich also eine Doppelperspektive, und das ist bedeutsam. Guys lässt uns wissen, dass er den Exodus mitten im Gewühl miterlebt hat, zeichnet sein Reportagebild aber aus überhöhter Idealperspektive. Man trifft diese Doppelperspektive in seinen Krimskizzen häufig an – zum Beispiel auch in der Begegnung zwischen dem türkischen Sultan und dem britischen Feldmarschall (Abb. 15), von Guys wieder in empirisch unverfügbarer Idealsicht festgehalten, aber mit dem Hinweis versehen, dass er selbst das Geschehen aus ganz anderem Winkel beobachtete, denn er ist der Mann unter dem Baum am Rande der Szene. Statt des betont subjektiv-zufälligen, ausschnitthaften Blicks, der seine Pariser Blätter auszeichnet, gab Guys wichtige Krim-Sujets also gerne aus übergreifender, verschiedene Einzelaspekte integrierender Gesamtperspektive wieder, allerdings immer mit dem Hinweis, wo er sich tatsaechlich postiert hatte. Seine Reportagebilder werden also dadurch zu oeffentlich relevanten Tatsachenberichten, dass sich der subjektiv beschränkte Blick des Reporters mit zusaetzlichen Beobachtungen bereichert, die er selber nachtraeglich machen oder von anderen Augenzeugen erfahren konnte. D.h. Guys definiert historische Objektivität nicht eng positivistisch als das, was er als Augenzeuge vor Ort empirisch registriert hat; vielmehr macht er sie im Vorgriff auf heutige Anschauungen als synthetisches Konstrukt für den Betrachter erkennbar und reflektierbar. In Paris hatte Guys sich als “historien des mœurs” betätigt, war aber flexibel genug, sich in der Krim zum Produzenten unanfechtbarer, quasi gerichts- und prozessfaehiger Bilddokumente umzudefinieren, auf die es in der englischen Presse ankam. Wie klar ihm dieses spezifisch britischen Reportage-Ethos was, zeigte sich schon 1847, als Guys den französischen Kollegen Gavarni als Bildreporter für die Illustrated London News gewinnen wollte und ihn ermahnte: “Denken Sie vor allem daran, dass es sich nicht um eine Kunstzeitschrift handelt, sondern um eine serioese, Tatsachen gewidmete Zeitung.“




Abb. 15+16

Daneben verdanken wir Guys freilich auch weniger sorgfältig komponierte, da buchstäblich im Eifer des Gefechts entstandene Skizzen. Dazu gehört u.a. dieses (Abb. 16) fulminante Blatt vom Angriff der englischen Leichten Kavallerie auf uneinnehmbare russische Artillleriestellungen, dem zwei Drittel der Brigade zum Opfer fielen. Es war eine auf Missverständnissen beruhende Wahnsinnstat, die in England als Gipfel des Heldentums gefeiert wurde. Man erkennt noch die Linien der Papierfaltung, die bei der Übersendung der Skizze nach London entstanden, und man sieht auch die erklärenden Text- und Figureneinschübe, die dem Stecher in London die Übertragung auf den Druckstock erleichtern sollten – obwohl der publizierte Stich (rechts unten) nur als grobe Verballhornung der Situation gelten kann.

Kurze Zeit nach dieser Schlacht wurde klar, dass mit einer schnellen Kriegsentscheidung nicht zu rechnen war. Man richtete sich auf eine Überwinterung in den Gräben um Sewastopol ein und verschob ernste Eroberungsanstrengungen auf den folgenden Frühling. Die Bildreporter verabschiedeten sich daraufhin aus der Krim, um die ereignislose Wartezeit in Istanbul zu verbringen, und auf diese Weise versäumten sie die größte Sensation, beziehungsweise die größte Tragödie, die der Krimkrieg zeitigen sollte. Der britische Generalstab erwies sich nämlich als unfähig, die reichlich vorhandene Winterkleidung und Verpflegung an die Front zu bringen; auch hatte man in der Erwartung, dass dies ein Krieg ohne Wunden sein werde, keinerlei medizinische Vorsorge getroffen. Die Folge davon war die nahezu vollständige Vernichtung der britischen Armee innerhalb weniger Winterwochen – nicht durch russisches Feuer, sondern durch Hunger, Typhus und Erfrierung. Nach der Abwanderung der Bildreporter gelangten nur Russells Schriftberichte nach England, aber sie waren alarmierend genug, um die London Times Ende Dezember den Rücktritt der Regierung zu fordern, der Ende Januar auch erfolgte.


Abb. 17

Die “Illustrated London News” musste in dieser kritischen Phase ohne Bilder von der Front auskommen. Guys wurde zwar sofort zurück in die Krim beordert, aber bis er davon erfuhr und einen Schiffsplatz ergatterte, vergingen Wochen, und bis seine Skizzen in London publiziert wurden, war der Winter fast vorbei. Trotzdem trug die “Illustrated London News” mit einem wirkungsvollen Bildappell zum Sturz der Regierung bei (Abb. 17). Es kehrten im Januar nämlich die ersten Kriminvaliden nach London zurück, und das Porträt eines Beinamputierten erschien mit einem anklagenden Begleittext noch während der Krisentage. Hier wird exemplarisch das Potential der Reportage deutlich, die im Gegensatz zur grundsätzlich um Jahre verspäteten Historienmalerei die zeitgeschichtlichen Ereignisse als laufend und veränderbar darstellte. Neben den bewaffneten Kampf an der Front traten letztlich nicht weniger entscheidende Gefechte an der medialen Heimatfront. Wo ehedem die politischen Machthaber ein weitgehendes Meinungs- und auch Bildmonopol besessen hatten, entwickelte sich nun eine pluralistische Situation, in der sich verschiedene soziale Gruppen und Interessen artukulieren konnten. Beweis fuer diese Polyphonie der Meinungen und Bilder ist u.a. die publizistische Gegenoffensive, die Queen Victoria im Februar gegen die kritische bürgerliche Presse startete, indem sie optimal inszenierte Besuche in den Kriegs-Hospitälern machte (Abb. 18), deren Insassen nachher aussagten, nun wüssten sie, wofür sie geblutet hätten. Die Intervention der Königin re-etablierte in der Öffentlichkeit eine gehörig patriotische, linien- und regierungstreue Sicht der Dinge. Die Situation war vorläufig gerettet für die kriegführende aristokratische Elite, die im Feld voll versagt hatte.




Abb. 18+19

Mit einiger Verzögerung erschienen dann auch die Zeichnungen, die Guys in den verschneiten Gräben gemacht hatte. Dazu gehören Blicke in den Grabenalltag (Abb. 19), wo sich die Offiziere durch warme Kleidung und selbstbewusste Körperspache auszeichnen, während die gemeinen Soldaten in den Winkeln frieren. Während Offiziere und Gefreite in Schlachtsituationen Verluste im Verhältnis von 1 zu 15 erlitten, war das Verhältnis im Grabenkrieg etwa 1 zu 1000. Nur gemeine Soldaten hungerten, froren und starben. Davon handeln auch (Abb. 20) die erbarmungswürdigen Nottransporte der englischer Invaliden von der Front zum Nachschubhafen Balaklava, die sich nun in typischer Guys-Manier zu einem endlosen Strom, aber diesmal einem Leidensstrom formieren, der das Heimatpublikum erschütterte und sein Teil dazu beitrug, dass die englische Armee aufs beste versorgt in den folgenden Kriegswinter ging. Hier (Abb. 21) eine weitere weitere Skizze von der Winterkrise, wobei die Gegensätzlickeit der Marschlinien von Offizier und Mannschaften auch einen sozialen Widerspruch thematisiert. Die schauerlichen Krimhospitäler, von denen die größten und mörderischsten in einem fuer Guys leicht zugaenglichen Stadtteil von Istanbul lagen, hat Guys freilich nicht besucht. Das Grauen dieser Beinhäuser war ohnedies jenseits bildlicher oder verbaler Beschreibung. Die “Illustrated London News” handelte das Thema mit einem einzigen, rein fiktiv in London fabrizierten Bild ab (Abb. 22), das Florence Nightingale mit ihrer legendären Lampe bei der Visitation von Invaliden zeigt, von denen sie, die herausragendste Führungspersoönlichkeit des ganzen Krieges, nur die wenigsten retten konnte.



Abb. 20

Abb. 21+22

In der französischen Armee und Presse lagen die Dinge anders, obwohl faktisch fundierte Bildreportagen trotz kaiserlicher Zensur hier ebenfalls prosperierten. Das Gros dieser Zeichnungen wurde von Henri Durand-Brager für die Illustration angefertigt. Durand-Brager war als Marineoffizier hauptamtlich mit Feindaufklärung befasst. Seine zahlreichen Zeichnungen von russischen Küsteninstallationen und den Stellungen um Sewastopol waren fürs Militär bestimmt, doch wurden etliche nebst zusätzlichen Schilderungen des Lagerlebens auch an die Bildpresse weitergegeben. Durand-Brager war also echter Militärexperte, und keiner der vielen Künstler, die damals in die Krim pilgerten, war so gut wie er mit den Gräben und Batterien vertraut (Abb. 23), die in Form hoch detaillierter Holzstiche nach seinen Zeichnungen viele Seiten von L’Illustration füllten. An Objektivität lassen die Darstellungen wenig zu wünschen übrig, doch als Bildinformation zur vielschichtigen Kriegswirklichkeit sind sie erstaunlich unergiebig, besonders im Vergleich zu Guys. In der Menge der belagerungstechnischen, topografischen und chronologischen Einzelheiten sind entscheidende Aspekte des sozial, politisch und militärisch komplexen Phänomens Krimkrieg kaum aufzufinden.


Abb. 23

In Frankreich war man mit solchen Faktenreportagen im britischen Stil noch kaum bekannt, und um falschen Erwartungen vorzubeugen, hat Durand-Brager mehrfach darauf verwiesen, dass seine Bildberichte nichts mit malerischer Sittenschilderung zu tun hatten und keine Kunstansprüche erfüllen wollten: “Was ich mache, gehört ins Gebiet der Geschichte, nicht der Phantasie”, schrieb er einmal an die Redaktion, “und anhand der gesammelten [Bild-]Dokumente können sich die Leser exakte Rechenschaft über die Operationen der Belagerungsarmee geben.” Aber so stolz er auf die Objektivität seiner Zeichnungen war, lässt sich doch besonders anhand des zweiten Kriegswinters von 1855/56 zeigen, dass sie im Kontext der napoleonischen Zensur mehr verschleiert als enthüllt haben.

Ohne weitere Kampfhandlungen musste das im September 1855 eroberte Sewastopol nur noch bis zum absehbaren Friedensschluss besetzt gehalten werden. Da die riesige französische Armee auf engstem Raum in feuchten, unhygienischen Erdunterständen kampierte, gestaltete sich dieser zweite Winter aber ebenso katastrophal für die Franzosen wie der erste für die Engländer. Durand-Brager hätte daher reichlich Stoff für Reportagen à la Guys zu den horrenden Lagerzuständen gehabt, doch falls er überhaupt an kritische Berichterstattung dachte, machte die Zensur dies unmöglich. An wichtigen Ereignissen gab es sonst wenig zu melden, und so erschienen paradoxerweise von seiner Feder nun vor allem gemütvoll-humoristische Beiträge unter dem Titel “Typen und Physiognomien der Orientarmee” (Abb. 24).


Abb. 24

Angekündigt hatte er diese von seinen Faktenreportagen klar abgegrenzten Sittenschilderungen schon im März 1855 mit dem links gezeigten malerischen Frontispiz, aber der “Prolog”, der von amüsanten Erlebnissen auf der Schiffsreise an die Front handelt, datiert erst von Ende 1855, ist also zeitgleich mit der grossen Cholera- und Typhusepidemie im französischen Lager, der L’Illustration weder Wort noch Bild gewidmet hat. Die Serie endete 1857, lange nach Friedensschluss, mit Bildfolgen zum Thema Grabenkrieg. Dazwischen liegen viele typologische Studien, zu denen unter anderem in Abb. 25 der “Enthusiast” links und der “kritische Raisonneur” rechts gehören. Die zeitliche Koinzidenz von Seuchenkatastrophe und amüsanter journalistischer Typenkunde mag ungeplant gewesen sein, aber die prinzipielle Affinität von Pressezensur und “Physiognomie”-Genre steht außer Zweifel und hat eine konkrete historische Wurzel: Als Louis-Philippe die 1830 zugestandene Pressefreiheit alsbald wieder aufhob und (Bild-)Kritik an der Regierung verbot, musste die politische Grafik in allgemeine Sittenkritik ausweichen und bildete das beliebte “Physiognomie”-Genre heraus, das bei Daumier seine gesellschaftskritische Stoßkraft bewies, ansonsten aber meist affirmativ und versöhnend eingesetzt wurde. Durand-Bragers Einstellung wird deutlich genug (Abb. 26) im Überangebot an Soldaten, die in den Gräben nicht erfrieren und zerfetzt werden, sondern Boule spielen oder im Geschosshagel allenfalls den Verlust einer Weinflasche zu beklagen haben. Hier und da taucht ferner eine Ambulanzepisode auf (Abb. 27), und auch ein oder zwei pietätvolle Sterbeszenen wurden eingestreut. Von der ursprünglich angekündigten Schilderung der Militärhospitäler fehlt dagegen bis auf das gemütliche Beispiel rechts unten jede Spur – falls es sie gab, hat die Zeitungsredaktion sie zurückgehalten. Mit solchem Wohlverhalten kamen Durand-Bragers Skizzen dem literarischen Genre des Militärromans nahe, das unter Napoleon III. mit der Absicht gefördert wurde, die durch Waterloo lädierte Reputation der Armee aufzubessern und um Sympathie für den ebenso opfermutigen wie drolligen französischen Soldaten zu werben.


Abb. 25

Abb.26+27

Damit ist genug gesagt über die zeichnerische Reportage der Krimkriegsperiode, und ich lasse einige Anmerkungen zur Fotografie folgen. Die Kamera beanspruchte selbstverständlich, die Ereignisse wahrheitsgetreuer als jeder Zeichner festzuhalten, erwies sich letztlich aber als ebenso manipulierbar wie Stift und Pinsel, war im übrigen auch dadurch gehandicapped, dass es noch keine Verfahren zur tonalen Abbildung von Fotos auf der Druckseite gab. Wie sie am Beispiel links sehen, publizierten die Bildzeitungen bis Ende des 19. Jahrhunderts nur lineare Stichabbildungen. Erst um 1900 war die Autotypietechnik so weit, dass sie fotografisch-tonale Abbildungen in Zeitungen mit Grossauflage gestattete – links ein Beleg aus dem 1. Weltkrieg. Davon abgesehen, lagen die Belichtungszeiten um die zehn Sekunden pro Aufnahme, so dass Bewegungsabläufe nicht fotografiert werden konnten – aber Krieg besteht nun einmal aus Bewegung.

Während des Krimkriegs hieß dies, dass die Kamera als journalistisches Reportage-Instrument noch gar nicht brauchbar war. Roger Fenton, dem Leibfotografen Queen Victorias, der im März 1855 mit einem gewaltigen, kriegsuntauglichen Dunkelkammerwagen und königlichen Empfehlungsschreiben auf der Krim erschien, wird die erste fotografische Kriegsreportage der Geschichte zugeschrieben, doch verfolgte er zwei höchst traditionelle Ziele ausserhalb des Pressekontexts. Erstens gab er mit Fotos einen topografischen Überblick über den Kriegsschauplatz. Dekorative Verteilung von Kanonenkugeln zur Suggerierung tatsächlich gar nicht vorhandener Gefahren wurde dabei nicht verschmäht (Abb. 28, 29), obwohl Fenton sich nie näher als einen halben Kilometer an das Grabensystem von Sewastopol angenähert hat – die eigentliche Kriegszone, wo geschossen und gestorben wurde, hat er nie betreten.




Abb. 28+29

Als zweites Hauptprojekt erstellte Fenton im Auftrag Victorias eine Porträtgalerie des britischen Generalstabs vor Sewastopol, darunter (Abb. 30) Captain Burnaby, der sich zünftig mit Diener, nubischem Koch und Pferden ablichten ließ, und der Herzog von Cambridge, der divh wie viele andere Krimkrieger erst in London der Kamera stellte. Was die gefeierte Attacke der Leichten Kavallerie betrifft, konnte Fenton der spontan-dynamischen Guys-Skizze im übrigen nur eine statische Ansammlung von Überlebenden gegenüberstellen.Bei der Generalsgruppe in Abb. 31 handelt es sich laut Titel um den “Kriegsrat der drei alliierten Befehlshaber am Morgen der (erfolgreichen) Eroberung der Mamelon-Festung”, einem wichtigen russischen Vorwerk. Hier scheint die Kamera also doch schon die Faehigkeit zu beweisen, ein wichtiges Kriegsereignis synchron und authentisch festzuhalten – doch bei genauerer Prüfung verflüchtigt sich die historische Gewissheit. Zwar gab es eine Sitzung zur Vorbereitung des Sturms auf das russische Vorwerk, doch fand sie drei Tage zuvor statt und war von 17 Ingenieuren und Artillerieoffizieren besucht. Dass sich die drei Oberkommandeure trotzdem ein exklusives Stelldichein gaben, wird von Fentons Aufnahme zwar bewiesen, aber man weiss, dass dies 24 Stunden vor dem Angriff geschah. So wie die Generäle auf dem Bild erscheinen, haben sie sich jedenfalls dem Fotografen auf einige Minuten für mediale Zwecke zur Verfügung gestellt und führen unter seiner Regie willig das Schauspiel “Kriegsrat” vor. So viel zur viel gerühmten Authentizität historischer Kamerabilder.


Abb. 30+31

Weitere Fenton-Porträts zeigen, dass Fentons Krimbesuch nie als autonomes Reportage-Unternehmen gedacht war, sondern von vornherein einem Kunstprojekt diente. Der Kunsthändler Agnew finanzierte Fentons Krim-Reise nämlich nur, um Porträtfotos zur Hand zu haben, die der Maler Thomas Barker dann zu einem figurenreichen Gemälde der vor Sewastopol versammelten Generäle verarbeitete (Abb. 32). Fotos und Gemälde wurden ohne nennenswerten Gewinn verkauft – aber der Stich nach dem Gemälde wurde in Großauflage noch während der Kriegsjahre auf den Markt geworfen und brachte Agnew den damals enormen Gewinn von 10000 Pfund Sterling ein. Die unten aufgereihten Fenton-Fotos sind alle in Barkers Leinwand integriert worden, die Fotografie fungiert hier also nur als die “Dienstmagd der Kunst”, wie man damals sagte. Aber auch mit der Kunst, beziehungsweise dem einst führenden und hoch angesehenen Genre der Historienmalerei ist es nicht mehr weit her, da das Gemälde nur noch den Zweck hat, fotografische Bilddaten zu einer Komposition ohne Handlung zu verweben, und ansonsten ja auch nur Vorwand für die Herstellung des billig und massenhaft vertriebenen Stichs war. Der Krimkrieg war der große Moment der zeichnerischen Pressereportage: sekundär spielte auch schon die Fotografie eine Rolle, die bald der Zeichnung den Rang ablaufen sollte. Die Historienmalerei führte dagegen nur noch Nachhutgefechte und verschwand bald vollständig aus dem Spektrum der Medien, die Zeitgeschichte vermittelten.


Abb. 32

Ich beende an diesem Punkt den Überblick über die Bildgeschichte des Krimkriegs. Es ist deutlich geworden, dass die seit den 1840er Jahren aufkommenden illustrierten Zeitungen den Krimkrieg zum ersten bewaffneten Konflikt gemacht haben, der nahezu simultan an ein urbanes Massenpublikum vermittelt wurde und insofern als erster “Medienkrieg” der Geschichte gelten kann. Das legt abschließend die Frage nahe, welche Verbindungslinien sich von der Krim in den Golf als Schauplatz der jüngsten Medienkriege ziehen lassen. Einige Anmerkungen speziell zum Thema der Hervorhebung bzw. Maskierung kriegerischer Blutspuren sind doch noch angebracht. Durand-Brager, wie gesagt, hat das Thema von Tod und Wunden möglichst gemieden, auch unter Fentons 360 Krimfotografien kommt kein einziger Toter oder Verwundeter vor. Dagegen schenkte zwar Guys der Frage der Verwundetenfürsorge während der Winterkrise große Aufmerksamkeit, ansonsten finden sich aber auch bei ihm nur floskelhafte Verweise auf die menschlichen Kosten von Krieg, so etwa in der bereits ausschnitthaft gezeigten Illustration, wo er sich am Tag nach blutigen Kämpfen beim Abschreiten des leichenbesäten Schlachtfelds porträtiert (oben). Von der französischen Zensur abgesehen, galten in der alten Welt noch ungeschriebene, aber für das zeitungskonsumierende Bürgertum selbstverständliche Regeln des Takts, die ein bildliches Ausschlachten von Kriegsgrauen unterbanden. Schon acht Jahre später zeitigte der Amerikanische Bürgerkrieg aber plötzlich ein Überangebot an Schnappschüssen nicht nur gefallener, sondern auch schrecklich entstellter Soldaten. Dazu gehört ein Bild aus einer Serie von Leichenfotos, die Gardner und O’Sullivan gleich nach Ende der Kämpfe auf dem Schlachtfeld von Gettysburg aufgenommen haben. Sobald die Bestattungsoperationen abgeschlossen und keine weiteren Leichen mehr verfügbar waren, eilten die Fotografen nachhause, um ihre “Todesernte” (so der Titel des Bildes) lukrativ zu vermarkten. Für Takt war hier kein Raum. Fotografiert wurde in Amerika für ein anonymes großstädtisches Massenpublikum, das kaum persönliche Bindungen an die Kombattanten hatte und in der Abbildung militärischer Gewalt nur die Gratifikation ungehemmter Neugier suchten.
Neben Zensur und Bemäntelung zeichnet sich hier Voyeurismus als ein weiteres, von der kapitalistischen Bildpresse gezüchtetes Dauermerkmal moderner Kriegskultur ab. Bei genügend gesellschaftlichem Druck kam es zu pietätvoller Maskierung militärischer Blutopfer; doch wo solcher Druck fehlte, waren sensationalistischer Ausbeutung Tür und Tor geoeffnet. Letztere Tendenz scheint dabei gar nicht so vorherrschend zu sein wie allgemein angenommen.

Man hat die Fotos vom Amerikanischen Bürgerkrieg in ihrer direkten, noch heute schockierenden Abbildung von gewaltsamer Zerstörung menschlicher Körper als schlechthin “modern” angesprochen, aber wie die bald darauf einsetzende strenge Zensur der Kriegsberichterstattung beweist, liegt Modernität gerade nicht im Enthüllen, sondern im Maskieren der Gewalt. Bradys und Gardners schauerliche Bürgerkriegsfotos sind als “Betriebsunfälle” einer Epoche zu verstehen, die mit Kamerabildern und deren publizistischem Potential noch kaum Erfahrungen gesammelt hatte.
Während die Abbildungskapazitäten im 20. Jahrhundert ständig massiv zugenommen haben, hat die totale Visualisierung der Welt paradoxerweise dazu geführt, im Gestus des Zeigens der Gewalt die Gewalt zu ästhetisieren und zu kaschieren. Unbereinigte, sensationalistische Gewaltbilder sind zunehmend in marginale Medienbereiche mit Low-brow-Status verdrängt worden. Unter anderem war es die technische Weiterentwicklung der Kamera-, Druck- und Layout-Technik, die der Kriegsfotografie vom Charakter der rohen, klinischen Fixierung schockierender Bilddaten wie 1863 bei Gettysburg befreite. Je leichter die fotografische Bildform mit Filtern und Linsen manipulierbar wurde und je raffinierter sich die Einbettung in narrative Lesemuster gestaltete, desto mehr mutierten Fotos von erschreckender Evidenz zu narrativer Fiktion. Beredtes Beispiel dafür ist David Duncans Korea-Reportage vom Dezember 1950 (Abb. 33), als sich die US-Truppen auf verlustreichem Rückzug durch asiatische Schneewüsten befanden. Mit brillianten Text- und Layout-Maßnahmen machte LIFE eine Weihnachtsgeschichte daraus, die keinerlei Information über die Probleme und menschlichen Kosten der Krisensituation anbot, dafür aber die daheim um die Christbäume versammelte Bevölkerung zutiefst rührte und quasi ein Band familiärer Liebe zu den Truppen im Schnee knüpfte. Hier hat die Presseillustration den von Guys einst überzeugend vertretenen Anspruch auf kritische Augenzeugenschaft aufgegeben, um ihr Publikum in ein spannendes Filmdrama auf Papier zu verwickeln. Wo Guys einst eine Winterreportage vorgelegt hatte (Abb. 20), erzählt uns Duncan ein Wintermärchen.


Abb. 33

Wenige Jahre später stand die Vietnam-Berichterstattung bereits im Zeichen des Fernsehens, das aber ganz unerwartet sein filmisch-erzählendes Potential dazu nutzte, um den ungeliebten asiatischen Kolonialkrieg nah, blutig und unaufhörlich über die Bildschirme flimmern zu lassen. Der Regierung misslang die Steuerung des Fernsehens, dessen entnervende allabendliche Sendungen wieder eine Art medialen Betriebsunfall produzierten. Durch Vietnam gewitzt, setzte das Pentagon dann alles daran, den ersten Golfkrieg auf der Medienebene völlig blutlos anzulegen. Journalistische Reportage und Tatsachenfindung jeder Art wurden streng unterbunden. In Unterständen weitab von der Front besahen die Reporter dieselben nichtssagenden Pentagonfilme von Leuchtraketen am Nachthimmel, die gleichzeitig auch von Saddam in Bagdad und von Bush in Washington genossen wurden. In den Videofilmen, die CBS und CNN nach Kriegende aus ihren Abendreportagen zusammenstellten, floss Blut daher nur in eingeblendeten Vietnam-Clips, die Bushs epochale Innovation verlustloser Kriegführung gebührend unterstreichen sollten – denn am Golf waren nur 149 Amerikaner gefallen. Die 100000 irakischen Toten fielen unter die Kategorie “enemy dead” und fielen als solche nicht ins Gewicht.

Um dem Misstrauen der arabischen Verbündeten vorzubauen, wurden die Bildnachrichten vom zweiten Golfkrieg nicht ganz so blutleer gehalten wie zwolf Jahre zuvor, aber durch den Fortschritt der digitalen Bildmedienkultur wurde es möglich, grosse Phasen des zweiten Golfkriegs als eine Art spannendes Videogame für Jungen und jung gebliebene zu inszenieren, und auf dieses Videogame passt präzis, was schon vom Showbusiness im Krimkrieg zu sagen war: Auf der elektronischen Ebene gab es den Golfkrieg lange bevor er losging und wird es ihn lange nach seinem Ende weiterhin geben; unter diesen unzähligen Vor- und Nachspielen grossen Unterhaltungswertes ist das horrende Kriegsgeschehen selbst unauffindbar geworden. Wenn man heute ins Internet geht und den Suchbegriff “Golfkrieg” einspeist, bekommt man eine Menge von Bildresultaten angeboten; manche davon sind Ernst, manche Video-Spiel, aber eigentlich sind sie austauschbar, denn sie verfolgen beide die perfide Strategie, Krieg zur unblutigen Techno-Unterhaltung zu machen. Doch ist einzuräumen, dass unsere stupende Videokultur letztlich auch nicht ganz pannenfrei arbeitet. Wenn CDs mit den notorischen Abu-Ghraib-Fotos wochenlang in Umlauf sein konnten, ehe Rumsfeld und Bush eine Kopie zu Gesicht bekamen, ist offenbar das Totalmanagement der Bildnachrichten noch nicht ganz lückenlos gelungen. Das wäre eine geradezu optimistische Schlussprognose, wenn man nicht vor dem Inhalt weiterer medialer Betriebsunfälle schaudern müsste. Das Maskieren der Gewalt ist so unerträglich wie ihre Ausschlachtung. In beiderlei Form kommt noch einiges auf uns zu; im Kriegsbildgenre haben wir bisher vermutlich erst sehr wenig gesehen.

Wenn man von unserer digitalen Phantomwelt noch einmal einen Blick zurück auf die Zeit der Krimkrieg-Reportage wirft, wird deren zeichnerische, von maschinellen Automatismen unberührte Leistung noch einmal neu verständlich. Guys und seine Zeitgenossen betrieben Reportage als Projekt persönlicher Beobachtung, Verarbeitung und Vermittlung, und wie wir sahen, nahmen manche dieser Reportagen die Form direkter Interventionen in einen eben durch die Presse offen, unabgeschlossen und noch veraenderbar gestalteten Ereignisablauf an. Es dürfte schwer sein, im heutigen luftdichten Ereignis- und Medien-Management dafür Parallelen zu finden. Begünstigt wurden die Reporter der 1850er Jahre natürlich von Kriegsereignissen, die einerseits technisch noch so einfach strukturiert und so leicht zugänglich waren, andererseits aber – zumindest auf der britischen Seite – von der liberal erzogenen Generalität noch mit so wenig Zensur belegt waren, dass individuell verantwortliche und kritisch reflektierte Augenzeugenschaft in einem Masse praktizieren werden konnten, das aus heutiger Sicht schlicht beneidenswert erscheint.



Dieser Text ist eine überarbeitete Fassung von Ulrich Kellers Beitrag zur Tagung "Die Bedeutung der Zeichnung in den frühen Medienkriegen" (Kunsthalle Düsseldorf, 6. Mai 2007). Das ausgezeichnete Krimkrieg-Buch des Autors (The Ultimate Spectacle: A Visual History of the Crimean War, Gordon & Breach, Amsterdam u.a. 2001) enthält auch eine ausführliche Bibliografie.

Ulrich Keller lehrt am Department of the History of Art and Architecture der University of California, Santa Barbara.



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