MELTON PRIOR INSTITUT für Reportagezeichnung - Juli 2007 URL: http://www.meltonpriorinstitut.org/content/aktuell.htm |
Entfesselter
Xylographismus Die Erkenntnis, dass Vincent van Gogh nicht nur wie eine Vielzahl
seiner Malerkollegen ein Sammler von japanischer
Druckgrafik war, sondern dass er darüber hinaus auch von einer Passion für die
Bildkunst der Illustrierten seiner Zeit durchdrungen war, hat sich erst in den
letzten Jahren durchgesetzt.
Mit Beginn seiner künstlerischen Laufbahn in den frühen 1880er
Jahren setzte auch die Arbeit am Aufbau seiner Holzstich-
und Sozialreportagesammlung ein, die am Ende ca. 1700 Blatt
umfasste. Er investierte beträchtliche Teile der Unterhaltszahlungen seines Bruders Theo in
den Ankauf nicht
nur einzelner Illustriertenblätter, sondern ganzer Konvolute von
Jahrgangsbänden.
[6]
Dabei legte
er großen Wert auf eine internationale Ausrichtung der Sammlung. Den Grundstock bildeten
größere Bestände der damals weltweit verbreiteten englischen Illustrierten, den
er mit Bildmaterial aus holländischen
[7]
,
französischen
[8]
, deutschen
[9]
und amerikanischen Zeitschriften
[10]
aufstockte. Um die Entwicklungsgänge einzelner Zeichner und Stecher besser
überblicken zu können, löste er die Sammelbände auf und archivierte die auf
Karton aufgezogenen Einzelblätter sowohl nach thematischen Gesichtspunkten als
auch nach Künstler- und Stechernamen. Er analysierte stilistische
Merkmale einzelner Künstler, um die oft unsignierten Blätter eindeutiger zuordnen zu
können und legte lange
Listen von Monogrammen an.
Es ist vor
allem die Anschauung der „Graphic“- Sozialreportagen gewesen, die Van Gogh
ermutigte, sich des akademischen Gipskorsetts seiner Studienzeit zu entledigen
und sich seine Motive auf den Strassen und in sozialen Brennpunkten zu suchen. Seinem Bruder, der ihm
wegen dem Abbruch seiner akademischen Exerzitien Vorwürfe machte, antwortete er: „Ich frage: Wo holen die Zeichner, die für den ‚Graphic’
arbeiten, ihre Modelle her? Treiben sie die selber in den ärmsten Gassen von
London auf, ja oder nein ? Und was sie vom Volk wissen –
ist ihnen das angeboren? Oder haben sie es sich etwa erst später erworben
dadurch, dass sie unter dem Volk gelebt und auf Dinge geachtet
haben, an denen manch einer vorbeiläuft?“
[16]
Die Arbeiten Van Goghs aus dieser Zeit müssen jedoch nicht allein als eine künstlerische Anverwandlung sozialrealistischer Illustriertengrafik gelten. Lange Jahre trug er sich nämlich ernsthaft mit dem Gedanken, als Illustrator Arbeit zu finden, [17] und eine Vielzahl seiner Zeichnungen entstanden sicherlich unter dem Vorzeichen, „etwas in meinen Musterkoffer zu kriegen.. (das) die Aussicht eröffnet, Arbeit zu finden.“ [18] Das Motiv, finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen, mag dabei ein vorrangiges gewesen sein, ein anderes und sicherlich gleichberechtigtes war es, mit einer Anstellung als Zeitungszeichner der Falle des verhassten Kunsthandels entkommen zu können und gleichzeitig auch Eintritt in eine Gemeinschaft künstlerisch Gleichgesinnter finden zu können.
Vor allem seit er einen Essay von Hubert Herkomer gelesen hatte,
[19]
einem der führenden Zeichner des frühen „Graphic“, in dem dieser sich über den
Niedergang der
Zeichenkunst im Illustrationsgeschäft beklagt hatte, erschienen ihm die
künstlerischen Verhältnisse zur Frühzeit dieser Illustrierten in geradezu
mystischer Verklärung: „Ich würde es mir zur höchsten Ehre gerechnet haben“, schreibt er
1882 an seinen Bruder, “es wäre mein Ideal gewesen, am Graphic mitzuarbeiten, als er anfing.“
[20]
In einer Art Wachtraum halluzinierte er „etwas Heiliges, etwas
Edles, etwas Erhabenes. Ich sehe nun diese Gruppe von großen Künstlern an und
denke an das neblige London und an das Getriebe in
diesem kleinen Unternehmen. Deutlicher noch sehe ich in meiner Phantasie die
Zeichner in ihren verschiedenen Ateliers mit Begeisterung der besten Art ihre
Arbeit beginnen. Ich sehe Millais mit der ersten Nummer des Graphic zu Charles
Dickens laufen. Dickens war damals am Ende seines Lebens und ging an einer Art
Krücke. Millais sagte, während er ihm Luke Fildes´ Zeichnung Homeless and
Hungry zeigt, arme Leute und Landstreicher vor einem Nachtasyl; Millais
zu Dickens: „Geben sie ihm ihren Edwin Drood zu illustrieren“ und Dickens
sagt: “Einverstanden.“ Edwin Drood war Dickens letztes Werk, und Luke
Fildes, durch diese kleinen Illustrationen mit Dickens bekannt
geworden, betritt sein Zimmer am Tage seines Todes, sieht seinen leeren Stuhl
stehen, und so kommt es, dass eine der alten Nummern des Graphic die
ergreifende Zeichnung enthält: The Empty Chair . Empty
chairs – es gibt ihrer viele, es werden noch mehr dazukommen, und früher
oder später werden an Stelle von Herkomer, Luke Fildes, Frank Holl, William
Small usw. nur empty chairs bleiben. So steht es mit dem Graphic, so steht
es mit anderen, mit sehr viel anderen Dingen auf dem Gebiet der Kunst.“
[21]
5 Abbildungen Sechs Jahre später, im November 1888 nahm Van Gogh dieses Motiv der
leeren Stuhls wieder auf, das der „Graphic“ Artist
Luke Fildes am Morgen nach dem Tod
von Dickens in dessen Arbeitszimmer gezeichnet hatte. In der Verbreitung durch
die Illustrierte hatte dieses Blatt eine ganz enorme Popularität errungen und war zu einer Ikone der
Absenz geworden, die im 19. Jahrhundert bevorzugt als Nachruf für prominente
Persönlichkeiten, vor allem für Staatsoberhäupter eingesetzt wurde.
[22]
Für
Van Gogh war dieses Motiv jedoch mit der ganz spezifischen Bedeutung einer
Platzhalterschaft innerhalb einer idealsozialistischen Künstlergemeinschaft
verbunden, zu der er auch die „Graphic“-Artists und die anderen sozialrealistischen „Illustrateurs“ seiner Sammlung
zählte. Die Verlassenheit der beiden Stühle, seines eigenen sowie der seines
Künstlerfreundes Gauguin, kamen in existenzieller Endgültigkeit
und Unabwendbarkeit einer Vertreibung aus dieser Gemeinschaft gleich. Die tiefe
Verzweiflung, die daraus resultierte und die tragischen Ereignisse, die folgten,
gehören zu den prominentesten Bausteinen der Künstlerlegende van Gogh. Die Bildwelt der Illustrierten, der er dieses Bild der Absenz entnommen hatte, diese enzyklopädisch breite „Bibel“, die jeder Künstler „ein für allemal im Atelier haben“ solle [23] , erschloss sich ihm jedoch nicht nur an der Oberfläche als ein unerschöpflicher Motivkanon. In den vielen schlaflosen Nächten, in denen er seine Sammlung bei Kerzenlicht durchforstete [24] tauchte er auch tief in die Strukturen der druckgraphischen Blätter ein. Vielen Äußerungen Van Goghs ist zu entnehmen, dass es nicht nur die distributiven Möglichkeiten der Druckgrafik waren, die ihn faszinierten, sondern dass sich für ihn der billige, demokratische Charakter der Massengrafik mit bestimmten formalen Eigenheiten der Techniken zu einem ästhetischen Ideal verband, das er höher ansiedelte, als die Erscheinungsformen von Originalen. Wenn er in einem Brief an seinen Bruder über ein neu entstandenes Bild schreibt, es sähe aus „wie eine Chromolithographie aus einem Billigladen“ [25] , dann beschreibt er damit keinen Defekt, sondern eine von ihm angestrebte Erscheinungsform, und auch die vielen eigenartigen Kopien, die er nach Delacroix, Doré, Hokusai, Millet und anderen malte, sind, wie er vielfach betonte, nicht als Kopien im bekannten Sinn zu verstehen, in dem die Aura von Originalen nachempfunden wird, sondern als „Interpretationen“ oder „Übersetzungen“ von schwarz-weißen Reproduktionsstichen, also malerische Versionen von Populärgrafiken. [26]
Ein Übersetzer und Interpret war für ihn auch der Holzstecher. „Die alte
Manier des Stechens“
[27]
deren Ära in den siebziger Jahren zu Ende ging, verkörperte für Van Gogh das
Ideal eines gemeinschaftlichen, gildenähnlichen Kunstschaffens, in dem sich
beide Seiten, der zeichnende Künstler und der interpretierende Handwerker,
zurücknehmen und gegenseitig unterstützen, um ein „einfaches und wahres“ Resultat
hervorzubringen. Dass er, wie er in einem Brief vom Februar 1881 seinem Bruder
Theo mitteilte,
[28]
neben dem
Berufsbild des Zeichners auch das des Stechers für sich in Erwägung zog, ist im
Hinblick auf dieses Ideal einer arbeitsteiligen Kunstproduktion nur konsequent. Er machte
sich Gedanken über die verschiedenen Übertragungsmöglichkeiten von der
Zeichnung auf den Holzblock. Der Holzstich selbst war für ihn, wie er in einem
Brief vom März 1883
[29]
an den
Kollegen Rappard schrieb, ein beseeltes Medium mit einem ganz eigentümlichen
Charakter.
Wenn erin die Klage von Hubert Herkomer über den Niedergang der Illustriertengrafik einstimmte, [30] dann schaltete er sich damit auch in einen damals einsetzenden Diskurs über den Wandel der Xylographie ein, der gegen Ende des Jahrhundertsdurch die aufblühende Arts & Crafts - Bewegung an Schärfe nur noch zunahm.Durch den immer häufigeren Einsatz fotochemischer Übertragungsmethoden der Vorlagen auf die Druckstöcke und die inflationäre Verwendung von Liniermaschinenhatte sich in den siebziger Jahren der kraftvolle und rustikale Charakter des Holzstichs der frühen Jahre fast vollständig verflüchtigt zugunstenxylographischer Anschauungen, die nach Herkomers Ansicht vor allem aus Demonstrationen von Geschicklichkeiten und Effektenbestanden. Herkomers Mahnung an die Verleger, wieder mehr Wert auf künstlerische Qualität anstatt auf reinen Unterhaltungswert zu legen, und sein Appell an die Zeichner, den Tendenzen der Auflösung zu begegnen, indem sie sich wieder einer einfacheren und ehrlicheren Auffassung von Zeichnung zuwenden, wurde von van Gogh, der sich hier direkt angesprochen fühlte, auf sehr eigensinnige, aber auch sehr konsequente Weise umgesetzt, indem er das charakteristische xylographische Lineament als Strukturelement in seine Zeichnungen und in seine Malerei integrierte. In den Arbeiten der frühen achtziger Jahren war er, was den Einsatz von Schraffuren und Umrisszeichnung betraf, noch sehr stark an dem Stil von Herkomer, Fildes und anderen „Graphic“- Sozialrealisten orientiert. Der späte Van Gogh-Stil mit seinen dynamischen, oft vortexartig verlaufenden Linienbündelungen nähert sich dann immer weiter einer Anschauung an, den man als einen wilden, entfesselten Xylographismus bezeichnen kann. Es mangelt an ein einer grundlegenden phänomenologischen Untersuchung über den Einfluss der im 19. Jahrhundert enorm präsenten xylographischen Strukturelemente auf die verschiedenen Strömungen der moderne Kunst, vom Impressionismus bis hin zum Futurismus und zur kinetischen Abstraktion. Schon im Spätwerk des lange Zeit als Erfinders der Xylographie geltenden Thomas Bewick In der Entwicklung eines dynamisch-expressiven Xylographismus war Van Gogh nicht ohne konkrete Vorbilder. Etliche seiner bevorzugten „Illustrateurs“ wie Sydney Prior Hall oder Paul Renouarderschienen, wenn sie auf gleich gesinnte Stecher getroffen waren, mit Blättern, die sich durch einsehr prägnantes und ausdrucksstarkes druckgrafisches Lineament auszeichneten. Eine besonders frappierende Nähe zum späten Van Gogh-Stil weisen die Arbeiten des Künstlers Arthur Boyd Houghton auf, der ebenfalls Jahre lang für den „Graphic“ gearbeitet hatte. Van Goghschätzte ihn ganz besonders undsetzte ihn ob der gespenstischen Qualitäten seiner Blätter mit Goya gleich. Dass Boyd Houghton in dem Katalogbuch des Amsterdamer Van Gogh-Museums noch nicht einmal der Erwähnung Wert befunden wird, kann als Indiz dafür gelten, dass die Forschung hinsichtlich des Einflusses des Holzstichs auf Van Gogh über einen Horizont der rein motivischen Analogien nicht hinausgekommen ist. from "Graphic America", 1870 ( Boyd Houghton del. / Joseph Swain sc.) 16 Abbildungen Erst
echt spät, ab 1885, begegnete Van Gogh dem japanischen
Farbholzschnitt, der mit immerhin 300 Blatt recht prominent in seiner Sammlung
vertreten war und dessen Einfluss auf
seine Malerei unübersehbar ist. Die große innovatorische Leistung des Werks
von Vincent van Gogh besteht nicht
in einem pittoresken, naturpathetischen Furor, sondern in der Synthese, die er aus den beiden großen
Komplexen der Populärgrafik des 19. Jahrhunderts hergestellt hat, aus der farbintensiven flächigen Raumauflösung
des östlichen Ukyio-e Holzschnitts und der fluidal-kinetischen Abstaktion des
westlichen Holzstichs.
Das Register der gesammelten Korrespondenz Van Goghs liest sich wie ein „Who is Who" der internationalen Illustrationsgrafik des 19. Jahrhunderts. In seiner Leistung einer systematischen Durchdringung und einer stilistischen Charakterisierung von Einzelkünstlern geht er weit über das hinaus, was einige Jahre später der Autor und Illustrator Joseph Pennell in seinen Überblickswerken zur internationalen Illustrationskunst publizierte. Das MePri wird
in der Reihe „Van Gogh’s Favourites“ einige der Zeichner vorstellen, die dem
Sammler und Künstler Van Gogh besonders wichtig waren:
[1] „Vincent´s choice: the Musée imaginaire of Van Gogh“, Van Gogh Museum Amsterdam, 2003 [2] „Meesterlijk uitgedruckt- Van Goghs Haagse Prentenverzameling“, Museum Mesdag, Den Haag 2005 [3] Hans Luijten, „Rummaging among my woodcuts – Van Gogh and the Graphic Arts“, in: Vincent´s Choice, hrsg. Van Gogh Museum, Amsterdam 2005 / zum gleichen Thema: Ronald Pickvance, “English Influences on Vincent van Gogh“, Nottingham,1974, „Die Wirklichkeit in Black & White: englische Holzstiche“ in: Matthias Arnold, “Van Gogh und seine Vorbilder“,München 1997 [4] 1873 -75 [5] Brief R 20, Februar 1883 (zitiert nach der Ausgabe: Vincent van Gogh, Sämtliche Briefe, hrsg. Fritz Erpel, Berlin 1965) [6] Insgesamt 21 Bände, davon 10 Bände „The Graphic“ [7] De Hollandsche Illustratie [8] L´ Illustration, Le Monde Illustré, L´Universe Illustré, La Vie Moderne [9] Illustrirte Zeitung [10] Harper´s Weekly, Harper´s Monthly [11] Briefe 184 und 240, 1882. Mit „Südholländischem Kaffehaus“ ist eine Sorte billiger Kaschemme gemeint. Van Gogh interpretiert die Stellungnahme des Vorstands als ein Verdikt über Alkoholsucht sowohl von Konsumenten als auch von Produzenten der Illustriertenkunst. [12] Brief R 13, Oktober 1882 [13] Brief 406 [14] Brief 240, November 1882 [15] „The Originality of the scheme consisted in establishing a weekly illustrated journal open to all artists, whatever their method, instead in confining my staff to draughtsmen on wood as had been hitheto the general custom.“ ( W.L. Thomas, The Making of the Graphic, American Review, 1888) [16] Brief 190, 1882 [17] Brief 140, Januar 1881 : „Ohne mir irgendwie anzumaßen, ich könnte es soweit bringen wie die Genannten, hoffe ich doch durch fleißigen Zeichnen von Arbeitertypen und so fort dahin zu kommen, dass ich einigermaßen fähig werde, Illustrationen für Zeitschriften oder Bücher zu machen“ [18] Brief 241 [19] Hubert Herkomer, Drawing and engraving on wood, Art Journal, 1882. [20] Brief 252 [21] Brief 252 [22] 1898 wurde das Motiv zum Beipiel in der „ London Illustrated News“ anläßlich des Rücktritts von Gladstone verwendet. Es geht ursprünglich auf eine Illustration von Daniel Chodowiecki zu Goethes „Werther“ (Ausgabe 1775) zurück, wo der verlassene Schreibtischstuhl den Selbstmord Werthers symbolisieren soll [23] Brief R 25, Februar 1883 [24] Brief 229, September 1882 [25] Brief 574, vom 28.1.1889. Seine in Arles entstandenen Malereien beschrieb er mehrfach als „Bilder wie Japandrucke“ (Briefe 554 und 555) [26] Briefe 607 / 613 [27] Brief R17 [28] Brief 141. [29] Brief R 30 [30] Brief 240, 1. November 1882 |