MELTON PRIOR INSTITUT für Reportagezeichnung - Juli 2007
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Entfesselter Xylographismus
Der Einfluss der Illustriertengrafik auf die Kunst von Vincent van Gogh.

Von Alexander Roob

Die Erkenntnis, dass Vincent van Gogh nicht nur wie eine Vielzahl seiner Malerkollegen ein Sammler von japanischer Druckgrafik war, sondern dass er darüber hinaus auch von einer Passion für die Bildkunst der Illustrierten seiner Zeit durchdrungen war, hat sich erst in den letzten Jahren durchgesetzt.
Vor allem zwei Ausstellungen sind dafür verantwortlich zu machen: Eine, die sich im Frühjahr 2003 in Amsterdam dem weitläufigen Komplex seiner bildnerischen Einflüsse widmete, [1] und eine weitere, die 2005 in Den Haag speziell auf seine Sammlung von Illustriertengrafik einging. [2]


Zwar heißt es im Katalogbuch zu ersterer, es sei nahezu unmöglich, die Wichtigkeit der graphischen Künste für Vincent van Gogh zu überschätzen [3] , doch genau dies, könnte man sagen, gelingt den Herausgebern. Sie bebildern es vorrangig mit Malereien sattsam bekannter Referenzkünstler von Rembrandt über Millet bis zu Signac und belassen den großen Komplex der Illustriertenkunst, den Van Gogh selbst als seine visuelle „Bibel“ bezeichnete, und die „Illustrateurs“, an deren künstlerischer Gleichstellung er brennend interessiert war, weitgehend in der Obskurität. Man kann sich schwerlich des Eindrucks erwehren, als bleibe die Van Gogh-Forschung, was ihre Beschäftigung mit der Illustriertenkunst betrifft, weit hinter seinen eigenen Ansprüchen zurück.

Während seines fast zweijährigen Aufenthalts in London als Kunsthandelslehrling [4] , in dessen Verlauf seine Auffassung von der Bestimmung der Kunst einen radikalen, religiös grundierten Wandel durchmachte, waren es vor allem die Grafiken in den Auslagen der großen Illustrierten, der „London Illustrated News“ und ihres erst kürzlich gegründeten Konkurrenzblatts „The Graphic“, die auf ihn einen tief greifenden Eindruck gemacht haben. So nachhaltig war er, dass Van Gogh noch zehn Jahre später gegenüber seinem Künstlerfreund Anthon van Rappard bekannte: „Manchmal ist mir zumute, als läge nichts zwischen damals und heute - höchstens dass meine damalige Begeisterung noch gestiegen ist“. [5]

 

Abb.oben: Van Gogh, 1884
Abb.links: Van Gogh, 1883
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Mit Beginn seiner künstlerischen Laufbahn in den frühen 1880er Jahren setzte auch die Arbeit am Aufbau seiner Holzstich- und Sozialreportagesammlung ein, die am Ende ca. 1700 Blatt umfasste. Er investierte beträchtliche Teile der Unterhaltszahlungen seines Bruders Theo in den Ankauf nicht nur einzelner Illustriertenblätter, sondern ganzer Konvolute von Jahrgangsbänden. [6] Dabei legte er großen Wert auf eine internationale Ausrichtung der Sammlung. Den Grundstock bildeten größere Bestände der damals weltweit verbreiteten englischen Illustrierten, den er mit Bildmaterial aus holländischen [7] , französischen [8] , deutschen [9] und amerikanischen Zeitschriften [10] aufstockte. Um die Entwicklungsgänge einzelner Zeichner und Stecher besser überblicken zu können, löste er die Sammelbände auf und archivierte die auf Karton aufgezogenen Einzelblätter sowohl nach thematischen Gesichtspunkten als auch nach Künstler- und Stechernamen. Er analysierte stilistische Merkmale einzelner Künstler, um die oft unsignierten Blätter eindeutiger zuordnen zu können und legte lange Listen von Monogrammen an.

Mit dem Künstlerfreund Rappard, mit dem er sein Faible für Zeitschriftendrucke teilte, tauschte er sich regelmäßig aus. Ansonsten stieß er allerdings mit seinem Interesse an Illustriertenkunst bei der Kollegenschaft auf Befremden. Der Vorstand der Den Haager Künstlergenossenschaft „Pulchri“ rümpfte über sein Angebot, einen Vortragsabend zu diesem Thema zu halten, nur die Nase und speiste ihn mit dem Argument ab, dass man sich mit solchem „Zeug, das wohl auch im Südholländischen Kaffeehaus ausläge“ nicht abgeben wolle. [11] In einem Brief an Rappard beschwerte er sich über die Herablassungen des Kunsthandels und der arrivierten Künstlerschaft hinsichtlich der Werke der Illustriertengrafiker und verwahrte sich gegen „das dumme Geschwätz“, das er zu hören kriege, „wenn vom Illustrativen die Rede ist. [12]"

Dabei waren es gerade die Direktheit und die populäre Verfügbarkeit dieser „Meisterwerke für 50 Centimes“, wie er sie nannte [13] , die seinem Ideal einer klassenübergreifenden demokratischen Kunst entsprachen; einer Arte povera, die nicht mit den Schatten der Prätention belegt zu sein schien, und die nicht einem elitären, auf Ausbeutung abzielenden Distributionsmechanismus unterworfen war, sondern „die in die Hände des Volkes und in den Bereich von Jedermann“ kommen konnte. [14]

  Tatsächlich waren die Gründungsphase der Illustrierten und damit auch die Ausrichtung ihrer Bildkunst stark von dem massenaufklärerischen und sozialrevolutionären Geist der Vormärzzeit bestimmt. Die siebziger Jahre, in denen Van Goghs Prägung stattfand, markieren allerdings eine Wende der vormals eher anonymen Illustriertengrafik ins Artifizielle. Durch neue fototechnische Übertragungsmöglichkeiten begannen sich die Zeichner aus ihrer Abhängigkeit von der Stecherzunft zu emanzipieren und entwickelten ein Selbstbewusstsein, das mehr und mehr auf Betonung der Autorenschaft und die Herausbildung eines identifizierbaren Stils abzielte. Diese Tendenz wurde vor allem durch den jungen Verleger William Luson Thomas forciert, der die Monopolstellung der „London Illustrated News“ durch ein editorisches Konzept anzufechten suchte, das dem Visuellen einen noch größeren Raum gewährte und das dezidiert auf die Ausprägung einer ausdrucksstarken künstlerischen Handschrift Wert legte [15] .
Der Gründer des „Graphic“ war selbst ausgebildeter Xylograph, ein Schüler des Stechers und Poeten William James Linton, dessen sozialrevolutionärer Berufsethos fermentartig auf die Heranbildung der späteren Arts & Craft-Bewegung einwirkte. Thomas scharte ein Gruppe von Künstlern um sich, die meisten von ihnen junge Akademieabgänger, die wegen ihrer sozialrealistischen künstlerischen Ambitionen für die Ausführung von Bildreportageaufträgen wie prädestiniert erschienen. Thomas, der wie die meisten seiner Künstler auch ein Verehrer der gefühlsbetonten Sozialprosa von Charles Dickens war, konfrontierte die Zeichner vor allem mit Themen aus der Nachtseite der viktorianischen Gesellschaft. Die eindringlichsten Arbeiten der „Graphic“-Artists entstanden in Armenhäusern, Nachtquartieren und auf den Strassen und Märkten Londons.



Hubert Herkomer, Blind Basket-makers, The Graphic 1871
rechts: H. Herkomer, Study for Blind Basket-makers, ca. 1870 (Collection MePri)


Es ist vor allem die Anschauung der „Graphic“- Sozialreportagen gewesen, die Van Gogh ermutigte, sich des akademischen Gipskorsetts seiner Studienzeit zu entledigen und sich seine Motive auf den Strassen und in sozialen Brennpunkten zu suchen. Seinem Bruder, der ihm wegen dem Abbruch seiner akademischen Exerzitien Vorwürfe machte, antwortete er: „Ich frage: Wo holen die Zeichner, die für den ‚Graphic’ arbeiten, ihre Modelle her? Treiben sie die selber in den ärmsten Gassen von London auf, ja oder nein ? Und was sie vom Volk wissen – ist ihnen das angeboren? Oder haben sie es sich etwa erst später erworben dadurch, dass sie unter dem Volk gelebt und auf Dinge geachtet haben, an denen manch einer vorbeiläuft?“ [16]

Die Arbeiten Van Goghs aus dieser Zeit müssen jedoch nicht allein als eine künstlerische Anverwandlung sozialrealistischer Illustriertengrafik gelten. Lange Jahre trug er sich nämlich ernsthaft mit dem Gedanken, als Illustrator Arbeit zu finden, [17] und eine Vielzahl seiner Zeichnungen entstanden sicherlich unter dem Vorzeichen, „etwas in meinen Musterkoffer zu kriegen.. (das) die Aussicht eröffnet, Arbeit zu finden.“ [18] Das Motiv, finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen, mag dabei ein vorrangiges gewesen sein, ein anderes und sicherlich gleichberechtigtes war es, mit einer Anstellung als Zeitungszeichner der Falle des verhassten Kunsthandels entkommen zu können und gleichzeitig auch Eintritt in eine Gemeinschaft künstlerisch Gleichgesinnter finden zu können.

Hubert Herkomer,
Study, ca. 1870 (Collection MePri)
Van Gogh, 1882


Vor allem seit er einen Essay von Hubert Herkomer gelesen hatte, [19] einem der führenden Zeichner des frühen „Graphic“, in dem dieser sich über den Niedergang der Zeichenkunst im Illustrationsgeschäft beklagt hatte, erschienen ihm die künstlerischen Verhältnisse zur Frühzeit dieser Illustrierten in geradezu mystischer Verklärung: „Ich würde es mir zur höchsten Ehre gerechnet haben“, schreibt er 1882 an seinen Bruder, “es wäre mein Ideal gewesen, am Graphic mitzuarbeiten, als er anfing.“ [20]


Van Gogh, Portrait, 1884 Hubert Herkomer, Portrait, undated
 


In einer Art Wachtraum halluzinierte er „etwas Heiliges, etwas Edles, etwas Erhabenes. Ich sehe nun diese Gruppe von großen Künstlern an und denke an das neblige London und an das Getriebe in diesem kleinen Unternehmen. Deutlicher noch sehe ich in meiner Phantasie die Zeichner in ihren verschiedenen Ateliers mit Begeisterung der besten Art ihre Arbeit beginnen. Ich sehe Millais mit der ersten Nummer des Graphic zu Charles Dickens laufen. Dickens war damals am Ende seines Lebens und ging an einer Art Krücke. Millais sagte, während er ihm Luke Fildes´ Zeichnung Homeless and Hungry zeigt, arme Leute und Landstreicher vor einem Nachtasyl; Millais zu Dickens: „Geben sie ihm ihren Edwin Drood zu illustrieren“ und Dickens sagt: “Einverstanden.“ Edwin Drood war Dickens letztes Werk, und Luke Fildes, durch diese kleinen Illustrationen mit Dickens bekannt geworden, betritt sein Zimmer am Tage seines Todes, sieht seinen leeren Stuhl stehen, und so kommt es, dass eine der alten Nummern des Graphic die ergreifende Zeichnung enthält: The Empty Chair . Empty chairs – es gibt ihrer viele, es werden noch mehr dazukommen, und früher oder später werden an Stelle von Herkomer, Luke Fildes, Frank Holl, William Small usw. nur empty chairs bleiben. So steht es mit dem Graphic, so steht es mit anderen, mit sehr viel anderen Dingen auf dem Gebiet der Kunst.“ [21]




Empty Chairs
5 Abbildungen
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Sechs Jahre später, im November 1888 nahm Van Gogh dieses Motiv der leeren Stuhls wieder auf, das der „Graphic“ Artist Luke Fildes am Morgen nach dem Tod von Dickens in dessen Arbeitszimmer gezeichnet hatte. In der Verbreitung durch die Illustrierte hatte dieses Blatt eine ganz enorme Popularität errungen und war zu einer Ikone der Absenz geworden, die im 19. Jahrhundert bevorzugt als Nachruf für prominente Persönlichkeiten, vor allem für Staatsoberhäupter eingesetzt wurde. [22] Für Van Gogh war dieses Motiv jedoch mit der ganz spezifischen Bedeutung einer Platzhalterschaft innerhalb einer idealsozialistischen Künstlergemeinschaft verbunden, zu der er auch die „Graphic“-Artists und die anderen sozialrealistischen „Illustrateurs“ seiner Sammlung zählte. Die Verlassenheit der beiden Stühle, seines eigenen sowie der seines Künstlerfreundes Gauguin, kamen in existenzieller Endgültigkeit und Unabwendbarkeit einer Vertreibung aus dieser Gemeinschaft gleich. Die tiefe Verzweiflung, die daraus resultierte und die tragischen Ereignisse, die folgten, gehören zu den prominentesten Bausteinen der Künstlerlegende van Gogh.

Die Bildwelt der Illustrierten, der er dieses Bild der Absenz entnommen hatte, diese enzyklopädisch breite „Bibel“, die jeder Künstler „ein für allemal im Atelier haben“ solle [23] , erschloss sich ihm jedoch nicht nur an der Oberfläche als ein unerschöpflicher Motivkanon. In den vielen schlaflosen Nächten, in denen er seine Sammlung bei Kerzenlicht durchforstete [24] tauchte er auch tief in die Strukturen der druckgraphischen Blätter ein.

Vielen Äußerungen Van Goghs ist zu entnehmen, dass es nicht nur die distributiven Möglichkeiten der Druckgrafik waren, die ihn faszinierten, sondern dass sich für ihn der billige, demokratische Charakter der Massengrafik mit bestimmten formalen Eigenheiten der Techniken zu einem ästhetischen Ideal verband, das er höher ansiedelte, als die Erscheinungsformen von Originalen. Wenn er in einem Brief an seinen Bruder über ein neu entstandenes Bild schreibt, es sähe aus „wie eine Chromolithographie aus einem Billigladen“ [25] , dann beschreibt er damit keinen Defekt, sondern eine von ihm angestrebte Erscheinungsform, und auch die vielen eigenartigen Kopien, die er nach Delacroix, Doré, Hokusai, Millet und anderen malte, sind, wie er vielfach betonte, nicht als Kopien im bekannten Sinn zu verstehen, in dem die Aura von Originalen nachempfunden wird, sondern als „Interpretationen“ oder „Übersetzungen“ von schwarz-weißen Reproduktionsstichen, also malerische Versionen von Populärgrafiken. [26]


  Van Gogh, The Exercise Yard (after Doré) Van Gogh, Bridge in the rain (after Hiroshige)
   

Ein Übersetzer und Interpret war für ihn auch der Holzstecher. „Die alte Manier des Stechens“ [27] deren Ära in den siebziger Jahren zu Ende ging, verkörperte für Van Gogh das Ideal eines gemeinschaftlichen, gildenähnlichen Kunstschaffens, in dem sich beide Seiten, der zeichnende Künstler und der interpretierende Handwerker, zurücknehmen und gegenseitig unterstützen, um ein „einfaches und wahres“ Resultat hervorzubringen. Dass er, wie er in einem Brief vom Februar 1881 seinem Bruder Theo mitteilte, [28] neben dem Berufsbild des Zeichners auch das des Stechers für sich in Erwägung zog, ist im Hinblick auf dieses Ideal einer arbeitsteiligen Kunstproduktion nur konsequent. Er machte sich Gedanken über die verschiedenen Übertragungsmöglichkeiten von der Zeichnung auf den Holzblock. Der Holzstich selbst war für ihn, wie er in einem Brief vom März 1883 [29] an den Kollegen Rappard schrieb, ein beseeltes Medium mit einem ganz eigentümlichen Charakter.

Wenn erin die Klage von Hubert Herkomer über den Niedergang der Illustriertengrafik einstimmte, [30] dann schaltete er sich damit auch in einen damals einsetzenden Diskurs über den Wandel der Xylographie ein, der gegen Ende des Jahrhundertsdurch die aufblühende Arts & Crafts - Bewegung an Schärfe nur noch zunahm.Durch den immer häufigeren Einsatz fotochemischer Übertragungsmethoden der Vorlagen auf die Druckstöcke und die inflationäre Verwendung von Liniermaschinenhatte sich in den siebziger Jahren der kraftvolle und rustikale Charakter des Holzstichs der frühen Jahre fast vollständig verflüchtigt zugunstenxylographischer Anschauungen, die nach Herkomers Ansicht vor allem aus Demonstrationen von Geschicklichkeiten und Effektenbestanden. Herkomers Mahnung an die Verleger, wieder mehr Wert auf künstlerische Qualität anstatt auf reinen Unterhaltungswert zu legen, und sein Appell an die Zeichner, den Tendenzen der Auflösung zu begegnen, indem sie sich wieder einer einfacheren und ehrlicheren Auffassung von Zeichnung zuwenden, wurde von van Gogh, der sich hier direkt angesprochen fühlte, auf sehr eigensinnige, aber auch sehr konsequente Weise umgesetzt, indem er das charakteristische xylographische Lineament als Strukturelement in seine Zeichnungen und in seine Malerei integrierte.

In den Arbeiten der frühen achtziger Jahren war er, was den Einsatz von Schraffuren und Umrisszeichnung betraf, noch sehr stark an dem Stil von Herkomer, Fildes und anderen „Graphic“- Sozialrealisten orientiert. Der späte Van Gogh-Stil mit seinen dynamischen, oft vortexartig verlaufenden Linienbündelungen nähert sich dann immer weiter einer Anschauung an, den man als einen wilden, entfesselten Xylographismus bezeichnen kann.

Es mangelt an ein einer grundlegenden phänomenologischen Untersuchung über den Einfluss der im 19. Jahrhundert enorm präsenten xylographischen Strukturelemente auf die verschiedenen Strömungen der moderne Kunst, vom Impressionismus bis hin zum Futurismus und zur kinetischen Abstraktion. Schon im Spätwerk des lange Zeit als Erfinders der Xylographie geltenden Thomas Bewick  verkomplizierten sich die Schraffurelemente. Indem er in seinem letzten Stich „Waiting for Death“ (1828) zwei Platten übereinander druckte, erzielte er eine in der Druckgrafik bisher unerreichte flirrende Skala von grafischen Abstufungen. Im Laufe der Entwicklung wurden, was Herkomer und Van Gogh ausdrücklich missbilligten, diese xylograpischen Lineamente immer differenzierter und raffinierter und lösten sich als autonome Strukturelemente immer weiter aus dem grafischen Gerüst der Gegenständlichkeit. Ein oft mikroskopisch feines Gewebe aus wabernden Wellen, informellen Wirbelelementen und nervösem, pointillistischen Geflickere durchströmt die druckgrafische Bildwelt des neunzehnten Jahrhunderts, und zwar in zeitlich ähnlicher Progression, in der sich die materiale Welt als ein dichtes Netz aus physikalischen Wellen, Schwingungen und Strahlungen aller Art erwies. Die okkulte, mesmeristische Seite des späten neunzehnten Jahrhunderts ist in diesen fluidalen xylografischen Geweben ebenso verfangen wie die technisch-maschinelle Seite mitsamt den Obsessionen für mikroskopische Feinmechanik und ziselierte Bordürenornamentik.

In der Entwicklung eines dynamisch-expressiven Xylographismus war Van Gogh nicht ohne konkrete Vorbilder. Etliche seiner bevorzugten „Illustrateurs“ wie Sydney Prior Hall oder Paul Renouarderschienen, wenn sie auf gleich gesinnte Stecher getroffen waren, mit Blättern, die sich durch einsehr prägnantes und ausdrucksstarkes druckgrafisches Lineament auszeichneten. Eine besonders frappierende Nähe zum späten Van Gogh-Stil weisen die Arbeiten des Künstlers Arthur Boyd Houghton auf, der ebenfalls Jahre lang für den „Graphic“ gearbeitet hatte. Van Goghschätzte ihn ganz besonders undsetzte ihn ob der gespenstischen Qualitäten seiner Blätter mit Goya gleich. Dass Boyd Houghton in dem Katalogbuch des Amsterdamer Van Gogh-Museums noch nicht einmal der Erwähnung Wert befunden wird, kann als Indiz dafür gelten, dass die Forschung hinsichtlich des Einflusses des Holzstichs auf Van Gogh über einen Horizont der rein motivischen Analogien nicht hinausgekommen ist.




Xylographism unbound – Details of Works of Van Gogh & the Wood Engravings
from "Graphic America", 1870 ( Boyd Houghton del. / Joseph Swain sc.)

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Erst echt spät, ab 1885, begegnete Van Gogh dem japanischen Farbholzschnitt, der mit immerhin 300 Blatt recht prominent in seiner Sammlung vertreten war und dessen Einfluss auf seine Malerei unübersehbar ist. Die große innovatorische Leistung des Werks von Vincent van Gogh besteht nicht in einem pittoresken, naturpathetischen Furor, sondern in der Synthese, die er aus den beiden großen Komplexen der Populärgrafik des 19. Jahrhunderts hergestellt hat, aus der farbintensiven flächigen Raumauflösung des östlichen Ukyio-e Holzschnitts und der fluidal-kinetischen Abstaktion des westlichen Holzstichs.

Das Register der gesammelten Korrespondenz Van Goghs liest sich wie ein „Who is Who" der internationalen Illustrationsgrafik des 19. Jahrhunderts. In seiner Leistung einer systematischen Durchdringung und einer stilistischen Charakterisierung von Einzelkünstlern geht er weit über das hinaus, was einige Jahre später der Autor und Illustrator Joseph Pennell in seinen Überblickswerken zur internationalen Illustrationskunst publizierte.

Das MePri wird in der Reihe „Van Gogh’s Favourites“ einige der Zeichner vorstellen, die dem Sammler und Künstler Van Gogh besonders wichtig waren:
Hubert Herkomer – Arthur Boyd Houghton – Paul Renouard – Frederick Walker - Gustave Doré – Felix Regamey – Edwin Abbey & George Boughton – Georges Charles Montbard – Xavier Mellery.


In den Beständen des MePri:

Vincent´s choice: the Musée imaginaire of Van Gogh, Van Gogh Museum Amsterdam, 2003
Ronald Pickvance, English Influences on Vincent van Gogh, Nottingham,1974
Matthias Arnold, Van Gogh und seine Vorbilder, München 1997
Vincent van Gogh, Sämtliche Briefe, hrsg. Fritz Erpel, Berlin 1965
Frederic G. Kitton, Dickens and his Illustrators, London 1899
William Luson Thomas, The Making of the Graphic, in : Universal Review, 1888
Eric de Mare, The Victorian Woodblock Illustrators, London, 1980
Vincent van Gogh, Die Rohrfederzeichnungen, München 1990




[1] „Vincent´s choice: the Musée imaginaire of Van Gogh“, Van Gogh Museum Amsterdam, 2003

[2] „Meesterlijk uitgedruckt- Van Goghs Haagse Prentenverzameling“, Museum Mesdag, Den Haag 2005

[3] Hans Luijten, „Rummaging among my woodcuts – Van Gogh and the Graphic Arts“, in: Vincent´s Choice, hrsg. Van Gogh Museum, Amsterdam 2005 / zum gleichen Thema: Ronald Pickvance, “English Influences on Vincent van Gogh“, Nottingham,1974, „Die Wirklichkeit in Black & White: englische Holzstiche“ in: Matthias Arnold, “Van Gogh und seine Vorbilder“,München 1997

[4] 1873 -75

[5] Brief R 20, Februar 1883 (zitiert nach der Ausgabe: Vincent van Gogh, Sämtliche Briefe, hrsg. Fritz Erpel, Berlin 1965)

[6] Insgesamt 21 Bände, davon 10 Bände „The Graphic“

[7] De Hollandsche Illustratie

[8] L´ Illustration, Le Monde Illustré, L´Universe Illustré, La Vie Moderne

[9] Illustrirte Zeitung

[10] Harper´s Weekly, Harper´s Monthly

[11] Briefe 184 und 240, 1882. Mit „Südholländischem Kaffehaus“ ist eine Sorte billiger Kaschemme gemeint. Van Gogh interpretiert die Stellungnahme des Vorstands als ein Verdikt über Alkoholsucht sowohl von Konsumenten als auch von Produzenten der Illustriertenkunst.

[12] Brief R 13, Oktober 1882

[13] Brief 406

[14] Brief 240, November 1882

[15] „The Originality of the scheme consisted in establishing a weekly illustrated journal open to all artists, whatever their method, instead in confining my staff to draughtsmen on wood as had been hitheto the general custom.“ ( W.L. Thomas, The Making of the Graphic, American Review, 1888)

[16] Brief 190, 1882

[17] Brief 140, Januar 1881 : „Ohne mir irgendwie anzumaßen, ich könnte es soweit bringen wie die Genannten, hoffe ich doch durch fleißigen Zeichnen von Arbeitertypen und so fort dahin zu kommen, dass ich einigermaßen fähig werde, Illustrationen für Zeitschriften oder Bücher zu machen“

[18] Brief 241

[19] Hubert Herkomer, Drawing and engraving on wood, Art Journal, 1882.

[20] Brief 252

[21] Brief 252

[22] 1898 wurde das Motiv zum Beipiel in der „ London Illustrated News“ anläßlich des Rücktritts von Gladstone verwendet. Es geht ursprünglich auf eine Illustration von Daniel Chodowiecki zu Goethes „Werther“ (Ausgabe 1775) zurück, wo der verlassene Schreibtischstuhl den Selbstmord Werthers symbolisieren soll

[23] Brief R 25, Februar 1883

[24] Brief 229, September 1882

[25] Brief 574, vom 28.1.1889. Seine in Arles entstandenen Malereien beschrieb er mehrfach als „Bilder wie Japandrucke“ (Briefe 554 und 555)

[26] Briefe 607 / 613

[27] Brief R17

[28] Brief 141.

[29] Brief R 30

[30] Brief 240, 1. November 1882




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